Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Julia Itin

Weiteres

Login für Redakteure

Julia Itin

Akademischer Lebenslauf

Seit WiSe 09/ 10

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Jüdische Studien, Orientalisches Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Dr. Veltri);

Seit 01. Nov. 08

Research Assistant in der Junior Research Group "Cultures of Disaster. Shifting Asymmetries between Societies, Cultures, and Nature from a Comparative Historical and Transcultural Perspective" des Exzellenzcluster "Asia and Europe in a Global Context. Shifting Asymmetries in Cultural Flows" der Universität Heidelberg (Prof. Gerrit Jasper Schenk);

Seit Mai 08

Promotion an der Hochschule für Jüdische Studien und Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Betreuer Prof. Dr. Giuseppe Veltri); Arbeitstitel: Eine zerstörte Geschichte. Jüdische Narrative der Pestkatastrophe"

April 08

1. Staatsexamen im Fach Geschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg;

1. Staatsexamen im Fach Jüdische Religionslehre an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg;

WiSe 04/05 - SoSe 08

Studium der Jüdischen Studien an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg sowie der Geschichte und Pädagogik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Stipendium des Zentralrates der Juden in Deutschland);

Promotionsprojekt

Betreuer: Prof. Dr. Giuseppe Veltri

Eine zerstörte Geschichte. Jüdische Narrative zur Pestkatastrophe

Wie bereits der Titel der Arbeit verrät, ist der zu behandelnde Gegenstand nicht als Marginalie mittelalterlicher Geschichte, sondern in Beziehung zur Katastrophenerfahrung der Shoah zu sehen. Hieraus ergibt sich der Gegenwartsbezug meiner Arbeit, die aber ihrer Durchführung nach eine konsequent mediävistische bleiben will und muss. Die Bearbeitung verlangt einen souveränen Umgang mit den komparativen Methoden und die fachliche Anwendung eines breiten kulturwissenschaftlichen Ansatzes auch jenseits der Geisteswissenschaften bis hin zur Traumaforschung.

Der Gegenstand der Arbeit muss wohl als Neuland gesehen werden. Dies mag nach der Vielzahl von Studien zu den Pestzügen des 14. Jahrhunderts und den Pogromen der Jahre 1348-50 überraschen. Ich wende mich aber der in der Forschung weiterhin vernachlässigten jüdischen Seite zu und beschäftige mich mit den Reaktionen beim Heraufziehen der Gefahr, im Angesicht der Katastrophe und beim langen, auch transgenerationellen Verarbeiten des Geschehenen. Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat den Fokus einseitig auf die Juden als Objekte und damit als Opfer dieser Geschichte gelegt, was allerdings auch angesichts der Intentionen dieser Forschung und der Quellenlage bis zu einem gewissen Punkt unvermeidbar war. Es ist aber an der Zeit mit einem kritischen Zugang zur älteren Forschung und zu den wenigen Textzeugnissen, wie z. B. dem opus magnum František Graus' und der mittelalterlichen liturgischen Dichtung, die Geschichte der jüdischen Reaktionen auf die Pest und Pestverfolgungen (neu) zu schreiben. Dies kann nur ‚auf den Schultern der Riesen' mit Anschluss an neuere kulturwissenschaftliche und transdisziplinäre Zugänge jenseits des Feldes der Jüdischen Studien gelingen.

Für das eigene Thema muss ich darüber hinaus erst die Quellen erschließen und jüdische wie nichtjüdische Texte auf ihre Aussagekraft hin untersuchen. Mein Quellenspektrum reicht von christlichen wie jüdischen historischen Erzählungen, deren ‚Sitz im Leben' es zu ermitteln gilt, über medizinische Traktate, Memorbücher, liturgische Dichtungen und die lokalen Märchensammlungen bis hin zu gottesdienstlichen Ordnungen (Minchag-Literatur) und den darin fassbaren aussagekräftigen Veränderungen.

Die Aufgabe der Auswertung dieser Quellen ist sehr komplex und muss simultan in der Chronologie des Auftretens der Reaktionen auf eine Katastrophe selbst, aber auch in der parallelen Vielfalt der Verhaltensmustern vor, während und nach den Verfolgungen 1348-50 geleistet werden. Bei diesen Ereignissen sind m. E. die mentalen Folgen und ihr geistesgeschichtlicher Niederschlag, wie auch langfristige sozialgeschichtliche Konsequenzen der Verfolgung auszumessen. Aber die strukturellen, rechtlichen aber auch sprachlichen Veränderungen dienen eher als interner Prüfstein, als Lackmustest bezüglich der Richtigkeit der Vermutungen, die die narrative Quellen aufkommen lassen.

Mittelpunkt der Untersuchung soll die jüdische Narrative der Pestkatastrophe, die Verbalisierung der Geschichte bilden. In den Erzählungsmustern und den semantischen Feldern der Katastrophenbegrifflichkeit, die es noch zu ermitteln gilt, verbirgt sich m. E. bereits die Wahrnehmung und Deutung der kollektiven traumatischen Ereignisse. Die Problematik der jüdischen ‚Historiographie' im Mittelalter soll dabei - stets genau unter der Prämissen der Krise, der Erinnerung an die Krise und des Lebens in der Krise - im Auge behalten werden. Auch die ‚negative Narrative', das laute Schweigen der Quellen kann als Reaktion gelesen werden. Insgesamt halte ich es für zulässig in der Chronologie der verbalen Reaktionen mit Kategorien wie „das Schweigen", „das Schweigen brechen" und „das Unbeschreibliche beschreiben" zu arbeiten. Die Kunst aber - z. B. die unmittelbare literarische Verarbeitung der Katastrophe - könnte man mit Dmitrij Schostakowitsch als „Zerstörer des Schweigens" bezeichnen.

Die Quellenpalette ist recht bunt gemischt, dem Geiste dieser longue durée Untersuchung entsprechend: Die Grundtöne liegen im Spektrum des deutschsprachigen aschkenasischen Raumes, wobei auch Exkurse z. B. nach Avignon und nach Toledo vorgesehen sind. Die zeitliche Abgrenzung der eigentlichen Reaktion auf die Pest endet mit den erst in der frühen Neuzeit niedergeschriebenen jüdischen ‚Sagen' aus Worms, den Mayse Nissim. Auf die mittelalterlichen Quellen wird die zeithistorische Methodenfolie gelegt, in der der Paradigmenwechsel der Forschung aufgrund der Shoah in Bezug auf alte Katastrophen berücksichtigt wird.

Damit wage ich den nicht nur in der Geschichtswissenschaft immer noch umstrittenen diachronen Vergleich zwischen zwei Zivilisationsbrüchen, sondern begebe mich auch zusätzlich auf das Glatteis der ‚Vergleichbarkeitsdebatte' hinsichtlich der Shoah, was mir durchaus bewusst ist. Trotz der umrissenen Schwierigkeiten in der theoretischen und methodologischen Herangehensweise, erweist sich meine Methode der Quellenanalyse als sehr fruchtbar. Somit kann ich - z. B. auf der Forschung Jörn Rüsens aufbauend - das beinahe vollständige Fehlen der narrativen Quellen nicht nur mit dem massiven Quellenverlust, sondern auch mit dem Schweigen der Überlebenden nach den einschneidenden traumatischen Erfahrungen deuten. Die späteren Zeugnisse lassen sich als transponierte stellvertretende Auseinandersetzung der zweiten Generation lesen, die paradigmatische Auffassung der Katastrophen als Sinngebung der besonderen jüdischen Heilsgeschichte innerhalb der kausalen Universalgeschichte verstehen. So soll das zentrale Anliegen dieser Arbeit eine Untersuchung der ‚zerstörten' Geschichte - der facettenreichen Problematik der jüdischen Katastrophennarrative und der z. T. paradigmatischen Auffassung der Geschichte - sein, die wiederum kohärent zu der zerbrochenen Identität und einem zerbrochenem Geschichtsbild zu sehen ist.

Unter der Prämisse betrachtet, dass Geschichte sich nicht wiederholt, lässt sich feststellen, dass in den menschlichen Reaktionen auf die einschneidenden Ereignisse eine gewisse Kontinuität zu finden ist. Die Zeiten, Mentalitäten und kulturellen Bedingungen ändern sich und wir sind kaum im Stande uns in die Lage von „damals" zu versetzen. Wir können nur mit unserer eigenen historischen Erfahrung, mit dem Bewusstsein unserer eigenen Geschichtlichkeit, die Quellen lesen und interpretieren. Somit können wir den eigentlich immer vorhandenen, auch diachronen Vergleich ziehen und daraus eine sich selbst kritisch immer wieder überprüfende Methode machen.

Zum Seitenanfang